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Schatten – Eine nächtliche Halluzination (D 1923, Länge: ca 85‘)
restaurierter Stummfilm von Arthur Robison mit neuer Musik von Johannes Kalitzke (2016)
aus der ARTE Stummfilmkollektion

30. September 2021, 19.30 Uhr
Live in der Elbphilharmonie Hamburg
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Darsteller
Fritz Kortner – Eifersüchtiger Ehemann
Ruth Weyher – Ehefrau
Gustav v. Wangenheim – Liebhaber der Ehefrau
Alexander Granach – Schausteller
Fritz Rasp – 1. Diener
Karl Platen – 2. Diener
Lilly Harder – Zofe
Eugen Rex – 1. Kavalier
Max Gülstorff – 2. Kavalier
Ferdinand von Alten – 3. Kavalier

»Das Eifersuchtsdrama gewann durch die unterlegte Musik von Johannes Kalitzke enorm an Wucht und Dramatik. Elf Musiker entfachten ein Feuerwerk an Gefühlen. Wer bisher nicht verstanden hat, was zeitgenössische Musik leisten kann, erlebte ein eindrucksvolles Beispiel.« WAZ anlässlich der Premiere bei den Wittener Kammermusiktagen im April 2016.

Inhalt
Eine junge Frau, die mit ihren Reizen nicht geizt, leidet unter der krankhaften Eifersucht ihres Gatten. Bei einem Abendessen, zu dem vier Herren anwesend sind, glaubt er, anhand von Schattenbildern eine amouröse Annäherung zwischen seiner Frau und einem der Gäste zu erkennen. Ein Gaukler, der die Gesellschaft mit einem Schattenspiel unterhält, spürt die Spannung, die in der Luft liegt, und erteilt den Anwesenden eine Lektion. Er hypnotisiert sein Publikum und zaubert ihre Schatten auf die Leinwand. Da sehen sie ihre heimlichen Wünsche und Phantasien. Das Spiel mit den Schatten endet in einer grotesken Hinrichtung der jungen Frau, den rasenden Gatten werfen die Kavaliere aus dem Fenster. Aus der Trance erwacht, verlassen die Gäste das Haus, zwischen den Eheleuten herrscht wieder Harmonie, zumindest an diesem Morgen.

Zum Film
Schatten – Eine nächtliche Halluzination ist einer der besten Filme des deutschen Expressionismus und bewegt sich von der künstlerischen Wertigkeit her auf dem Niveau der Klassiker dieser Epoche wie Das Cabinet des Dr. Caligari oder Nosferatu, zu dem es eine Reihe enger Verbindungen gibt: 1. durch die Mitwirkung der Schauspieler Alexander Granach (der Häusermakler Knock in Nosferatu, der Schattenspieler in Schatten) und Gustav v. Wangenheim (der junge Thomas Hutter in Nosferatu, der Galan in Schatten), 2. durch Fritz Arno Wagner als Kameramann beider Filme und 3. durch den Produzenten Albin Grau, der eine große Affinität zu okkulten Stoffen hatte und der bei Schatten für die Architektur, Dekoration und Kostüme verantwortlich zeichnet. Grau hatte auch Einfluss auf den Inhalt des Films und gilt als der entscheidende Ideengeber.
Albin Grau ist in der deutschen Filmgeschichte kein Unbekannter. Er produzierte mit seiner kleinen Firma Prana-Film Nosferatu, hatte aber offenbar nicht die Buchrechte von Bram Stoker erworben. Es kam zu Regressforderungen, Grau verlor den Prozess, darüber ging seine Firma bankrott. So gründete er Pan-Film und produzierte mit dieser neuen Firma Schatten. Ursprünglich wollte er wieder Friedrich Wilhelm Murnau als Regisseur gewinnen, er stand jedoch aufgrund anderer Projekte nicht zur Verfügung. Seine filmhistorische Würdigung erhielt Schatten in den beiden Standardwerken zum Weimarer Kino von Lotte Eisner (‚Die Dämonische Leinwand‘) und Siegfried Kracauer (‚Von Caligari bis Hitler‘), die den Film übereinstimmend als Meilenstein in der Entwicklung des deutschen Kinos bezeichnen. Schatten gilt als Vorläufer für Hitchcocks Psycho und der Filme von Mario Bava.

Lotte Eisner schreibt: „Arthur Robison handhabt seine Schatten ebenso geschickt wie der kleine Illusionist des Films. Suggestiv werfen dessen flinke Hände im Kerzenlicht Schattenspiele an die Wand, Fratzen verzerren sich, hinter erleuchteten Fenstern huschen Silhouetten, wie sie auch Murnau im Letzten Mann zeigt. […] Die Zweideutigkeit der Schatten hat in diesem Film einen Freud‘schen Sinn: der kleine Taschenspieler lässt die Schatten der Handelnden verschwinden und öffnet so die Schleusen all ihrer geheimsten Begierden. Jene Phantasmagorie wird bedeutungsschwer: die Schatten treten an die Stelle der Lebenden, die während des Schauspiels zu leblos erstarrten Zuschauern ihres eigenen Geschicks werden; die Phasen ihrer Existenz, die sich zu Beginn des Films mit einem schweren Ritardando abgerollt haben, scheinen sich zu überhasten, einem tödlich verlaufenden Ende zuzustürzen.“ (Lotte Eisner: Die dämonische Leinwand, S. 134)

 

Die neue Musik

Sie entstand im Auftrag des WDR (Harry Vogt) und der ZDF/ARTE-Filmredaktion, die das gesamte Projekt für Filmkonzerte, Fernsehen und DVD produzierte. Johannes Kalitzke schrieb für die Stammbesetzung des ensemble ascolta: Trompete, Posaune, Violoncello, E-Gitarre, zwei Schlagzeuge und Klavier und nahm noch Violine, Kontrabassklarinette und Sampler dazu. So entstand ein funkelnder und doppelbödiger ‚musikalischer Irrgarten‘, in dem das Schatten-Prinzip des Filmdramas offenbare und versteckte musikalische Entsprechungen findet. Doppelgänger sind bereits im Instrumentarium: Violine/Strohgeige, Klavier/präpariertes Klavier, Trompete/Trompete ohne Ventile, wodurch ein ganz eigenes Klangspektrum verfremdeter, untemperierter Klänge entsteht. Johannes Kalitzke ge­staltet die Musik als ‚multiples Rondo‘, in dem Wiederholungen von ständigen Perspektivwechseln begleitet werden, und schafft damit ein pulsierendes Vexierspiel, das die neu­rotischen Unterströmungen der Geschichte freilegt. Alles steuert, wie er selbst sagt, auf einen Endpunkt zu, an dem das Happy End im Film selber einen Schatten wirft: als ein gefährdetes Glück, das nur durch Verdrängung des vorher offenbar­ten, unterbewussten Schattenreiches vorge­täuscht ist.

„Doch es ist nicht nur die beste Rekonstruktion dieses Klassikers, die nun auf DVD vorliegt, sondern auch jene mit der überzeugendsten Komposition, die in diesem Jahr während der Wittener Tage für neue Kammermusik uraufgeführt wurde. […] Kalitzke versteht den Film ohne eigene Tonspur als in sich schlüssig; indem er die exzentrischen Bilderfantasien von Robison/Grau als Basis für seine musikalische Form ernst nimmt, gelingt ihm eine Art doppelbödige Rondo-Form, die ihre explosiven Spannungspunkte in den Wahnsinnsattacken des Ehemanns findet und augenzwinkernd Beethovens ‚Für Elise‘ in Spieldosenklängen einführt. Die Musik wird nicht zum sekundierenden Doppelgänger des Films, sondern bildet einen dialogbereiten Klangkosmos. So geht in Kalitzkes Interpretation das Ende auch nicht ganz in Harmonie auf: der Mann und die Frau sind zwar keine Menschen mehr, die Schatten werden, aber immer noch welche, die Schatten werfen.“ (Stephan Ahrens im FILMDIENST 23/2016, S. 32)